Den Kopf heben!

Der Blick auf das System

Nehmen wir mal an, du seist eine Schulleiterin.

In deiner täglichen Arbeit spürst du, dass Veränderung nötig ist. Ja, du bist sogar bereits davon überzeugt, dass kleine Verbesserungen nicht reichen werden, sondern dass da ein grundsätzlicher Wandel her muss. In dem Bücherregal in deinem Büro steht die ganze Bildungsliteratur der letzten Jahrzehnte, da stehen Coaching-Anleitungen, Ratgeber für Menschen in Führungspositionen und in deinem Mail-Postfach ploppen täglich drei Newsletter der unterschiedlichsten Initiativen, Stiftungen  und Institute auf. Du weißt genau, was alles nicht gut läuft, an deiner Schule. Du hast durchaus Vorstellungen davon, was man alles machen könnte. Aber bei den Versuchen, deinem Kollegium davon zu erzählen, bei den wenigen Versuchen, die man dich hat unternehmen lassen, hast du dir eigentlich nur eine blutige Nase geholt. Und auch, wenn es da einzelne Menschen in deiner Umgebung gibt, die die gleichen Bücher und Studien gelesen haben wie du, deren Herz so schlägt wie deines. Du bekommst den Laden einfach nicht bewegt. Nichts fruchtet, nichts verfängt. Was kannst du tun? Du würdest am liebsten sofort etwas ändern, also beginnst du, deine Möglichkeiten durchzugehen.

Tu das nicht.

Wer seine Möglichkeiten durchgeht, befindet sich in einer panischen Situation, befindet sich im Chaos. Ein Revolverheld im Western, der nur noch eine Kugel im Revolver hat, der fängt an, seine Möglichkeiten durchzugehen. Es gibt auch Berufe, in denen es Routinen für solche Situationen gibt. Feuerwehrleute gehören zu dieser Berufsgruppe, Notärzte, Soldatinnen.

Dein Beruf gehört nicht dazu.

Na gut, es gibt da diese Situationen, wenn der Kollege in deinem Büro steht, den Tränen nahe, die Frau ist weg, die Kita streikt und in der nächsten Woche soll er mit seiner Klasse auf Klassenreise fahren. In solchen Fällen – und die gehören durchaus zu deinem Alltag – bist du Notärztin und Sondereinsatzkommando gleichzeitig. Du gehst die Möglichkeiten durch und findest einen heldenhaften Trick, um den Kollegen zu retten. Ich weiß. Das ist toll. Aber du suchst ja nicht nach einem Weg, Feuer zu löschen, sondern nach einem, wie du deine Schule ver-wandeln kannst.

Was kannst du tun?

Ich würde sagen, als erstes musst du ganz anders auf deine Schule gucken. Und dazu musst du zuerst den Kopf heben.

Das heißt, dass du aus dir selbst heraustreten musst und aus all diesen kleinen Alltagssituationen, die dich in einen Modus des schnellen Reagierens zwingen. Deine Schule als System zu betrachten bedeutet, dass dein  verzweifelter Kollege die Symptome für etwas trägt, das sich bei genauerer Analyse als ein Netzwerk von Wirkungen herausstellt, auf das du durchaus einen Einfluss hast.

Wozu brauchst du das?

„Systemisch“ ist ein recht elitär daherkommendes Wort. Man hat das Gefühl, Systemtheorie studiert haben zu müssen, um das System Schule wirklich analysieren zu können. Ich denke, dass das nicht nötig ist. Ich denke auch, dass so einige aktuelle Ableitungen aus der Systemtheorie eher der Reaktion zuzuordnen sind, als dem Versuch, Systeme zu verwandeln.
Dein Ziel sollte es sein, mit diesem System zu tanzen, wie Donella Meadows es einst beschrieb. (Glossar) Das bedeutet, dass du vor allem die Fehler im System erkennen willst, ohne sie mit Persönlichkeitsmerkmalen zu verknüpfen.
Das ist mir furchtbar wichtig: Viele Entscheidungen basieren auf Annahmen, die kaum evident sind und eher auf dem Prinzip Zuschreibung basieren. Schau ins Glossar, dort erfährst du mehr.
Du bist ein Teil des Systems, wirst von ihm beeinflusst und kannst es beeinflussen. Was allerdings in diesem System passieren wird, wie es auf bestimmte Einflüsse von außen reagieren wird, das kannst du nicht vorhersagen. Und du kannst das System nicht kontrollieren.
Niemand kann das.

Was ist ein System?

Bevor ich mir hier die Eigenschaften des Systems Schule vornehme, will ich einen äußerst knappen und ungenauen Blick darauf werfen, was ein System eigentlich ist und aus welchen Phänomenen und Regeln jedes System so ganz grundsätzlich besteht. Dazu muss ich sagen, dass dieses Kapitel, wie im Grunde alle Kapitel von schuleverwandeln, keine akademische Lehrveranstaltung ist. Ich verweise hier auch nur sehr selten auf Namen oder bestimmte Begriffe aus der umfangreichen Literatur zur systemischen Betrachtung einer Organisation. Mir geht es weder um Name-Droping, noch um den Schönen Schein einer akademischen Intellektualität, für die unnötig Energie aufzuwenden ich nicht bereit und inzwischen zu alt bin.
So gibt es im Grunde drei Möglichkeiten, was dir (oder mir) passieren kann, wenn du das Folgende und überhaupt alles bei schuleverwandeln liest: Entweder begegnet dir die systemische Betrachtungsweise zum ersten Mal, du glaubst mir, dass ich mich genug damit auskenne, um sie auf Schule anwenden zu wollen und du folgst meinen Gedanken, wirst vielleicht inspiriert, dich näher damit zu beschäftigen und suchst im Internet nach „Systemische Organisationsberatung“, „Systemtheorie in Organisationen“, „Organisation als System“ u.ä.m. Oder: Als zweite Möglichkeit, du kennst dich mit diesem systemischen Blick schon aus, kennst ihn aus anderen Zusammenhängen und erkennst die vielen Lücken in meiner Darstellung hier, lässt dich aber trotzdem auf meinen Versuch ein, einen systemischen Blick auf Schule zu finden – nicht als theoretisches Modell, sondern als täglichen Blick in der Rolle einer schulischen Führungsfigur. Vielleicht inspirieren dich meine Gedanken und Anwendungsideen, du hast Lust auf einen Austausch und trittst mit mir in Kontakt. Die dritte Möglichkeit gilt auch für alles auf schulerverwandeln.de: Du hältst mich für einen Schwätzer, der einen völlig falschen Weg beschreiten will. Das ist in Ordnung, mit einem Klick kannst du woanders sein.
Die Systemtheorie(n) – es gibt mehr als nur eine – sind schon ziemlich alt. Irgendwo am Anfang, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ist in den unterschiedlichsten Bereichen das gute alte Kausalitätsprinzip an seine Grenzen gestoßen. Die Vorstellung, dass es für alles eine Erklärung gibt, hat sich gewandelt zu der Erkenntnis, dass es für alles ein ganzes Netz an Erklärungen gibt, die alle miteinander zusammenhängen und dabei auch noch unterschiedlich stark und mit unterschiedlichen Vorzeichen wirken. Während man in der Technik und der industriellen Fertigung Systeme schuf – der berühmte Thermostat – versuchte man in der Biologie, Psychologie und Soziologie die natürlichen Systeme zu erkennen. Dazu ist ein nicht unbedeutender Wandel in der Wahrnehmung der Menschen nötig und eine andere Einstellung den eigenen mentalen Modellen gegenüber. Wenn dein Beifahrer im Auto den Regler voll auf Rot dreht, weil ihm kalt ist, dann ist das noch die alte Kausalitätssicht: Mir ist kalt, also muss voll geheizt werden. Dass die Klimaanlage so funktioniert, dass sie so schnell wie möglich die gewünschte Zieltemperatur erreicht, die man genau einstellen kann, spielt für deinen frierenden Beifahrer in diesem Moment keine Rolle. In der Schule wird auch noch oft in linearen Kausalitäten gedacht: „Die Schülerin ist viel zu faul.“, „Kein Wunder, bei den Eltern!“, „Ich hab es ihnen so oft erklärt und sie können sich das immer noch nicht merken.“, sind Hinweise auf nicht-systemisches, unterkomplexes Denken. Sie finden sich auf allen Ebenen des Bildungssystems und treiben die unglaublichsten Stilblüten. Viele der berühmten nächsten Säue, die durch Dörfer getrieben werden, sind Ergebnisse linearer Logik.
Jetzt aber zur systemischen Betrachtung. Hier ein paar grundsätzliche Zusammenhänge dieser Blickrichtung.
– Ein System ist aus einer Reihe unterschiedlicher Elemente zusammengesetzt. Diese Zusammensetzung dient einem ganz bestimmten **Zweck**. Die einzelnen Elemente können außerhalb des Systems in anderen Systemen Teil eines anderen Zwecks sein.
– Viele der Systemelemente sind selbst wieder Systeme und bilden Sub- oder Teilsysteme. Das ist wichtig zu verstehen, weil diese **Teilsysteme** wieder eigenen Zwecken folgen. Dabei kann es sein – und das kommt eigentlich fast immer in Systemen irgendwo vor – dass die Teilziele der Teilsysteme zusammen einen Zweck verfolgen, der nicht dem Zweck des Gesamtsystems folgt. Auch in deiner Schule existieren Teilsysteme (Menschen, Teams, Regelungen, Rituale usw.), die eine Art Eigenleben führen und für einen Zweck arbeiten, für den sie ursprünglich nicht „erfunden“ worden sind.
– Systeme sind in sich selbst **immer logisch und richtig**. Das gilt auch für die Teilsysteme. Sie erfüllen immer ihren Zweck. Wenn Schülerinnen im Unterricht pampig werden und sich gegen die Regeln der Lehrkraft auflehnen, dann erfüllen sie in diesem Moment absolut den Zweck ihres Teilsystems. Wenn die Lehrkraft an diesem „Verhalten“ etwas ändern will, muss sie also erst einmal herausfinden, worin dieser Zweck besteht.
– Systeme werden durch **Informationen** am Laufen gehalten. An den Schnittstellen oder Verknüpfungen des Systems werden Informationen ausgetauscht. Da unser System aus Menschen besteht, können wir vereinfacht sagen, dass es unzählige Kommunikationssituationen sind, die das Verhalten des Systems und seiner Teilsysteme bestimmen.

  •  Ein System ist aus einer Reihe unterschiedlicher Elemente zusammengesetzt. Diese Zusammensetzung dient einem ganz bestimmten Zweck. Die einzelnen Elemente können außerhalb des Systems in anderen Systemen Teil eines anderen Zwecks sein.
  • Viele der Systemelemente sind selbst wieder Systeme und bilden Sub- oder Teilsysteme. Das ist wichtig zu verstehen, weil diese Teilsysteme wieder eigenen Zwecken folgen. Dabei kann es sein – und das kommt eigentlich fast immer in Systemen irgendwo vor – dass die  Teilsysteme einen Zweck verfolgen, der nicht dem Zweck des Gesamtsystems entspricht. Auch in deiner Schule existieren Teilsysteme (Menschen, Teams, Regelungen, Rituale usw.), die eine Art Eigenleben führen und für einen Zweck arbeiten, für den sie ursprünglich nicht „erfunden“ worden sind.
  • Systeme sind in sich selbst immer logisch und richtig. Das gilt auch für die Teilsysteme. Sie erfüllen immer ihren Zweck. Wenn Schülerinnen im Unterricht pampig werden und sich gegen die Regeln der Lehrkraft auflehnen, dann erfüllen sie in diesem Moment absolut den Zweck ihres Teilsystems. Wenn die Lehrkraft an diesem „Verhalten“ etwas ändern will, muss sie also erst einmal herausfinden, worin dieser Zweck besteht.
  • Systeme werden durch Informationen am Laufen gehalten. An den Schnittstellen oder Verknüpfungen des Systems werden Informationen ausgetauscht. Da unser System aus Menschen besteht, können wir vereinfacht sagen, dass es unzählige Kommunikationssituationen sind, die das Verhalten des Systems und seiner Teilsysteme bestimmen.
Betrachte die Menschen, mit denen du kommunizierst, als Gegenübersysteme.
Sie versuchen ihren systemischen Zweck zu erfüllen und werden die Informationen, die sie von dir erhalten, entsprechend in ihre eigene Systemlogik einordnen.