Fokus auf den eigentlichen Zweck!

Der Blick auf die Aufgabe

Auf der Suche nach dem Lernen

Stellen wir uns vor, du seist Schulleiter. Vielleicht sind die Gebäude deiner Schule in jener Zeit entstanden, als man mit viel Platz „auf der grünen Wiese“ gebaut hat. Vielleicht besteht die Schule aus mehreren Einzelgebäuden mit viel Grün dazwischen, Spielgeräten, Sportplätzen, parkähnlichen Ecken mit Bänken unter Bäumen. Wenn du über „dein“ Schulgelände schlenderst, kannst du von draußen durch die großen Fenster in die Klassenräume schauen. Vielleicht hast du dir selbst einen solchen „Gang über das Gelände“ zum Ritual gemacht und gehst regelmäßig während des Unterrichts herum und versuchst zu spüren, zu hören und zu sehen, wie deine Schule lebt. Heute ist ein sonniger Tag, überall sind die Fenster offen, eine Lehrerin hat eine Lerngruppe offensichtlich mit einem Auftrag aus dem Klassenraum geschickt: Die Schüler sitzen verteilt auf Bänken und Tischtennisplatten oder im Gras und diskutieren oder üben Dialoge in einer Fremdsprache. Neugierig gehst du zu einigen von ihnen und schaust ihnen zu. Sie grüßen dich freundlich, erklären, was sie tun. Angenehm.
Du gehst weiter und begegnest einer Gruppe Fünftklässler auf dem Basketballplatz. Der Lehrer steht dabei. Du wunderst dich kurz, der Kollege unterrichtet Mathe. (Aber weil du Leserin dieser Seiten bist, wunderst du dich nicht lange…) „Wir mussten einfach mal raus, die konnten sich nicht mehr konzentrieren.“, erklärt er dir. Du wünschst viel Spaß, gehst weiter. Angenehm, denkst du.

Das Lernen ist im Kern selbstgesteuertes Tun.
Rolf Arnold

Doch dann gehst du an einigen Klassenzimmern entlang und kannst von außen den Unterricht sehen. Nachdem du von weitem in ein paar Klassen hineingeschaut hast, trübt sich irgendwie deine Stimmung. Schon aus deinen ersten Unterrichtsbesuchen bei einigen Lehrerinnen und Lehrern hattest du den Eindruck mitgenommen, dass die Schülerinnen und Schüler zu wenig beteiligt werden, zu passiv bleiben und dass, so ist zumindest dein allgemeiner Eindruck, der Unterricht an deiner Schule einigermaßen uninspiriert und langweilig ist. Natürlich ist dies ein harsches Urteil und du wagst es kaum zu denken, aber nach deinem kleinen Rundgang über den Schulhof fühlst du dich in diesem Urteil bestärkt. Während in den spielerischen und gemeinschaftlichen Situationen außerhalb der Klassenräume schon das Zuschauen Spaß gemacht hat, strahlten die Situationen in den Klassenräumen Langeweile und Müdigkeit aus. In allen Klassenräumen, an denen du vorbeigegangen bist, bot sich dir das gleiche Bild: Vorne, vor der Tafel oder dem Bildschirm einer digitalen Tafel, stand die Lehrkraft, die Lernenden saßen auf ihren Plätzen, schwiegen, manche meldeten sich. Wenn jemand durch den Raum lief, dann die Lehrerin, wenn jemand sprach, dann der Lehrer. Natürlich weißt du, dass du mit deinem schnellen Blick von weitem durchs Fenster nur einen kurzen Moment eingefangen hast und dass deine kleine Stichprobe  nicht repräsentativ ist, aber dieses Bild wiederholt sich regelmäßig bei weiteren Gängen über den Schulhof und es ergänzt deine Erfahrungen bei der Unterrichtsbeobachtung. Deine Schule fügt sich mit dieser Kultur der lehrkraftzentrierten Unterrichtsorganisation auch in das Bild, das Bildungsforscher zeichnen – das weißt du natürlich. Und du weißt auch, dass deine Schule – in der durchschnittlichen Unterrichtsstunde – eine wichtige Gelingensbedingung für erfolgreiches schulisches Lernen nicht oder zu wenig erfüllt, nämlich die kognitive Aktivierung der Lernenden.

Wozu brauchst du das?

In meinem Internetbrowser befindet sich noch immer eine Vielzahl an Lesezeichen, mit denen ich mir während der Corona-Zeit Seiten gemerkt hatte, auf denen Lehrerinnen und Lehrer Beispiele für – sagen wir mal – alternative Unterrichts-Arrangements beschreiben. Dabei geht es meist um projektartiges und eigenständiges Lernen mit digitaler Unterstützung. Möglicherweise hast du auch irgendwo eine solche Linkliste. Erinnerst du dich? All diese Seiten haben gemein, dass ein einzelner Lehrer seine Ideen beschreibt. Es gibt eine Art Community der sogenannten Netzlehrer beispielsweise im twitterlehrerzimmer und bei entsprechenden Online-Kongressen und scheinbar einen regen Austausch. Unterricht aber und dessen Qualität und Erfolg scheinen in dieser Welt in der Verantwortlichkeit einzelner Individuen zu stehen. Lehrerinnen tauschen untereinander aus, was sie entdeckt und ausprobiert haben, sie verweisen aufeinander, aber sie sprechen so gut wie nie von ihren Schulen und schon gar nicht von ihren Schulleitungen. Der Tenor lautet: „Ich mache das so …“ und nicht „Wir an unserer Schule machen das so …“
Für dich stellt sich also die Frage, wie du deiner Schule als Gesamtheit aller Lehrkräfte dabei helfen kannst, den Fokus ihrer Aufmerksamkeit mehr auf das Lernen zu richten und weniger auf die Organisation von Unterricht. Die Frage, die für deine Schule die höchste Relevanz haben sollte, lautet: Was hilft den Lernenden beim Lernen? Und nicht: Was hilft den Lehrenden beim Unterrichten?

Das Lernen findet im Individuum statt

Wie, wie schnell, was, wieviel auf welchem Weg gelernt wird, entscheidet diejenige, die lernt. Niemand anderes.
Systemisch ausgedrückt: Das Lernen findet im Gegenüber-System statt (Rolf Arnold).
Jetzt magst du sagen: Das ist doch klar. Welche triviale Feststellung.
Und da gebe ich dir Recht.
Aber.
Diese absolut naheliegende Feststellung müsste zur Folge haben, dass an Schulen ganz anders gelernt wird, als das jetzt der Fall ist. Die bittere Konsequenz aus jener trivialen Feststellung lautet: Das, was wir seit Jahrhunderten unter „Lehren“ verstehen, existiert nicht.
Lehren existiert nicht.
Zumindest nicht als realer Vorgang.
Die Vorstellung, dass ich als Lehrender etwas kann und das in das Gegenüber-System „Schüler:in“ hinein-lehre, entspricht nicht der Realität.
Die Vorstellung ich könnte mein Gegenüber be-lehren, indem ich ihm etwas erkläre, ist absurd.
Das konservative mentale Modell, das sich in Vorstellungen wie dem von der „Wissensvermittlung“, von „Lerntypen“, von „Lernzielen“ widerspiegelt, ist längst widerlegt.

Lerner*innen-Zentrierung

Fangen wir an, das System Schule genauer zu betrachten, indem wir uns den kleinsten Teilsystemen in ihm zuwenden: den Schülern und den Lehrerinnen.

Lernen ist Konstruktion. Manchmal über den Umweg der Dekonstruktion. Genau genommen funktioniert so das Verstehen. Lernen allerdings ist Verstehen. Lernen ohne verstehen wäre auswendig lernen. Wissen muss als Prozess verstanden werden. Deshalb kann man Wissen auch nicht vermitteln. Unser Gehirn verarbeitet Informationen. Dabei kann es gar nicht anders, als neue Informationen in die bereits angelegten Modelle zu integrieren. Anders formuliert: Unser Gehirn nimmt Informationen (Reize) auf und stellt Annahmen darüber auf, wie diese Informationen zu einem mentalen Modell zusammengefügt (konstruiert) werden können. Jede neue Information stellt dieses Modell gewissermaßen auf die Probe, überprüft es. Wenn es dann nicht mehr so genau passt, wenn die neue Information nicht mehr automatisch mitverarbeitet werden kann, dann passt unser Gehirn sein Annahmen-Modell so an, dass die neue Information dazu passt. Aus diesem Prozess der Modellanpassung besteht das, was wir Lernen nennen. (Henning Beck)

Und da du hier bist, liest und bleibst, muss ich dich wohl auch nicht weiter „bearbeiten“. Du kennst das Problemfeld lehrerinnen-zentrierten Unterrichts.
Die Frage, die sich für mich aus all dem ergibt, lautet: Wie bringe ich eine ganze Schule dazu, das Unterricht-Halten sein zu lassen und mit dem Lernen-Ermöglichen anzufangen?

Wenn nur der oder die Lernende selbst lernen kann, dann muss dieser Mensch aktiv Handlungen durchführen, um zu lernen. Aber, einfach nur irgendetwas zu tun, bedeutet noch nicht, zu lernen. Erst im Fortschritt, in der Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten findet Lernen statt. Lernen bedeutet genau gesagt, dass die Modelle und Muster, die unser Gehirn sich zurecht gelegt hat, immer zuverlässiger und genauer werden, gänzlich falsche Modelle werden über Bord geworfen, unbrauchbare Muster werden vergessen oder in ihrer Bedeutung eingeschränkt. Das Kleinkind lernt: Nicht alles, was rund ist, ist ein Ball. Manches kann man essen. Die Orange gehört nicht ins „Werfen und kullern“-Modell, sondern ins Modell „Reinbeißen“.
Die Jugendlichen lernen: Eine Meinung ist keine spontane Gefühlsäußerung, sondern eine Argumentation. Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt gehören ins Modell des sozialen Zusammenlebens und nicht ins Modell individueller Bedürfniskundgabe.
Abiturienten haben gelernt, dass wissenschaftliche Gewissheiten nicht in Stein gemeißelt sind. Was als mathematische Formel oder als historisches Ereignis beschrieben wird, bietet nur eine Interpretation, einen Erklärungsversuch. Wissenschaftlichkeit und das Modell der Evidenz beinhalten ständiges Überprüfen, beinhalten Austausch, Kritik, Alternativvorschläge und dies alles im Rahmen einer konstruktiven und „geregelten“ Kommunikation, zu der man fähig sein muss, die aber ihrerseits einer ständigen Überprüfung und Erweiterung bedarf.
Nichts von alledem kann mir jemand „vermitteln“.
Es gibt kein von Handlungen losgelöstes Wissen.
Wissen ist Verstehen. Wissen ist Können.
Wissen ist ein Vorgang, ein Prozess. Die Festplatten-Analogie des „Abspeicherns“ ist lern- und neuro-wissenschaftlicher Unsinn.

Wenn du es schaffen willst, deine Schule zu transformieren, dann musst du es schaffen, dass sie als System den Blick abwendet von einer behaltens-ökonomischen Vorstellung des Unterrichts. Das bedeutet, dass die Ressourcen Zeit, Lehrkräfte, Material, Input und Feedback nicht mehr dafür aufgewendet werden, abfragbares Wissen „in die Köpfe“ der Lernenden zu bekommen, sondern dafür, diese zielgerichtet handeln zu lassen und sie bei der Ausgestaltung und Erweiterung ihrer kognitiven Modelle und Muster zu unterstützen.

Zuvor aber musst du auch deine „ökonomischen“ Vorstellungen verändern und zunächst die Stärken der Schülerinnen und Schüler als Ressource betrachten. In den Lernenden, in jedem und in jeder, ist schon etwas vorhanden. Das Lernen – und somit auch das Lehren – muss und kann nur darin bestehen, Stärken und Können weiterzuentwickeln. An die Stelle der Behaltens-Ökonomie, die sich an Kriterien wie Quantität, Effizienz, Schnelligkeit, Berechenbarkeit, Ordnung, Sortierung und Definität von Begriffen misst, muss eine Stärken-Ökonomie treten, deren Wirksamkeit an Werten wie Fortschritt, Entwicklung, tiefe Durchdringung, Nachhaltigkeit, Problemlösung, Kreativität, Gemeinschaft usw. überprüft wird.
Der Blick – vor allem auch dein Blick als Leitung – muss sich also von der Durchführung von Unterricht, im Sinne eines Be-lehrens, abwenden und der Ermöglichung des Lernens zuwenden (Ermöglichungsdidaktik).

Dieser Blickwechsel zielt auf einen lerner:innenzentrierten Blick. Es ist durchaus komplex, herauszufinden, was das genau für die Beziehung zu und den Umgang mit den Schülerinnen und Schülern heißt. Fangen wir hier erst einmal mit einer wesentlichen Voraussetzung dafür an: Der Fähigkeit, Resonanz zu erzeugen.

Lernen ist Resonanz

Zwar findet das Lernen nach individuellen Voraussetzungen und durch individuelles Handeln statt, aber dies geschieht in Verbindung mit anderen und mit der Umwelt und den Gegenständen in ihr. Lernen ist ein sozialer Vorgang und ein kreativer Prozess. In Auseinandersetzung mit den Anderen, mit Mit-Lernenden und mit Lehrerinnen. Das hat einerseits mit Beobachten und Nachahmen zu tun, andererseits mit Perspektiv-Wechseln und damit, das Denken und die Strategien der anderen nachvollziehen zu können. Dabei entstehen Gefühle, Reibungen und Widerstände. Das Miteinander-Lernen, wie auch das Miteinander-Arbeiten, stellt enorme Anforderungen an die Kommunikation und erprobt ständig das Selbstbild jedes Beteiligten – bei Jugendlichen noch viel mehr, als bei Erwachsenen. Das, was wir in Schule so oft als „Soziales Lernen“ aussondern, in Klassenlehrer:innen-Stunden und in Projektwochen stattfinden lassen, ist in Wirklichkeit das eigentliche Lernen. Menschen lernen von-, mit- und durch-einander. Dabei lernen sie nicht nur etwas über den jeweiligen Weltausschnitt, also den Lerngegenstand, sondern sie erweitern auch ihr Können im Feld der sozialen Interaktion und sie erweitern ihren Horizont in Bezug auf andere Wahrnehmungen, Meinungen, Bewertungen, Bedürfnisse, Stärken, Interessen usw. Wie der Wortschatz durch Kommunikation stetig wächst, so wächst auch das Menschenbild und damit die Akzeptanz und Toleranz des und der Anderen.
Ich denke, es ist leicht nachzuvollziehen, dass diese kommunikative Interaktion der Menschen, wenn sie gelingt, mit dem Wort Resonanz bezeichnet werden kann. Wenn du mehr theoretischen Hintergrund zu den sozialen Resonanzverhältnissen brauchst, solltest du nach Werken von Hartmut Rosa suchen, der in einem dicken aber sehr lesenswerten Buch eine Resonanz-Soziologie formuliert. Mit Wolfgang Enders zusammen ist auch ein Ansatz der Resonanz-Pädagogik entstanden und schließlich wirst du bei der Suche im Internet auch auf die Kombination von Resonanzpädagogik und Schulleitung stoßen.
Auch in der lernenden Begegnung mit den Dingen, mit den Lerngegenständen ist Resonanz eine grundlegende Voraussetzung für die Erweiterung des Könnens. Sei es ein Gedicht, eine Region der Erde, ein Netz historischer Zusammenhänge, ein Musikinstrument, eine mathematische Formel oder der eigene Körper in einer sportlich herausfordernden Situation. Die Begegnung mit diesen „Dingen“ erzeugt in mir als Lernendem nur dann Interesse und Motivation, wenn ich das Gefühl habe, auf dieses Ding eine Wirkung ausüben zu können, die dafür sorgt, dass das Ding wiederum auf mich wirkt. Wir finden diese schwingende Beziehung zu den Gegenständen bei Künstlern (und dort loben und feiern wir sie auch oftmals völlig übertrieben als Genialität oder Begabung) und bei Heldinnen der Wissenschaft. Menschen, die sich von Dingen fesseln lassen, sie zu gestalten versuchen, mit ihnen auf ungewöhnliche Art umgehen, ihnen eine neue Bedeutung oder Wirkung verleihen, sind in unseren Augen kreativ. Leider ist in der Schule noch kaum angekommen, dass Kreativität nicht ein Ausnahmezustand ist oder ein spaßiges Hobby, sondern Grundlage der Könnens-Erweiterung also des Lernens der Menschen.

Erst wenn die Stärken der Schüler als Ressource betrachtet werden und schulisches Lernen als Weiterentwicklung dieser Stärken, erst dann ist das System bereit, Lernen zu ermöglichen.

Lernen ist ein sozialer und kreativer Prozess. Erst, wenn den Lernenden  Möglichkeiten gegeben werden, mit dir und mit ihren Mitschülern in ein von Resonanz geprägtes Miteinander und Durch-Einander zu geraten, kann Lernen und gelingen. Gleiches gilt für die Begegnung mit den Gegenständen der Welt. Erst wenn diese Begeisterung auslösen und ein kreatives Umgehen mit ihnen ermöglicht wird, entsteht Resonanz und ist das Lernen motiviert.

Im Zentrum der pädagogisch-didaktischen Aufmerksamkeit der Schule muss also das Können der Lernenden stehen und nicht das Durchführen von Unterricht.

Lernen kann nur die Lernerin selbst, woraus folgt, dass nur sie lernend handeln kann und dies eigenständig tun muss. Einen wirksamen Vorgang des Belehrens, mit der Lehrkraft als vermittelndes Medium, gibt es nicht.