Es wirken nur echte Dialoge!
Der Blick auf die Menschen
Dieses Kapitel lenkt den Blick weg von den linear geordneten Prozessen hin zu den Menschen, die etwas tun. In der Schule sind dies vor allem die Lernenden. Auch Lehrerinnen und Lehrer lernen, sogar Schulleitungen lernen. Natürlich sollte die Schule eine lernende Organisation sein. Nur trübt auch dieser Begriff wieder den Blick auf die einzelnen Menschen, denn es geht um die Bedingungen, die individuelles Lernen ermöglichen, ohne Menschen allein zu lassen.
Viele Voraussetzungen für diesen Blick sind dir bereits bekannt. Der Unterricht kann als ein Wirkungsgefüge verschiedenster Einflussgrößen betrachtet werden. Den Begriff „Wirkungsgefüge“ benutzte schon Frederic Vester in den siebziger Jahren, als er unter anderem zeigte, dass Stress und Angst das Lernen hemmen, lange bevor man das mit bildgebenden Verfahren der Medizin tatsächlich nachweisen konnte. Am Anfang der 2000er Jahre hat der Neurologe Manfred Spitzer uns diese Bilder in seinen Vorträgen gezeigt und uns Lehrern und Pädagogen sehr anschaulich – und gewissermaßen noch einmal ganz von vorne – erklärt, wie sich das Lernen im Gehirn abspielt. Als einer der letzten tat dies Henning Beck, mit ähnlicher Anschaulichkeit.
Wir wissen also, wie Menschen lernen.
Wenn wir den Unterricht, also das Geschehen im Klassenraum, als System betrachten, dann kennen wir auch dessen Einflussgrößen. Hatties Studien, vor allem mit den relativ aktuellen Nachbesserungen und den Übersetzungen auf das deutsche Schulsystem, zeigen, wie sehr und unter welchen Bedingungen diese Einflussgrößen wirken.
Aber wie bekommen wir all diese Erkenntnisse, all die Evidenz in den Unterricht? Wie werden sie dort nicht nur sichtbar, sondern wirkungsvoll?
Die These hinter diesem Blickwechsel lautet: Wir verfolgen im Unterricht die falsche Wirkungsabsicht. Ich glaube, dass in den meisten Schulen und Klassenräumen der Fokus auf Durchführung liegt, auf Planung und nicht auf den Menschen. Deshalb gestalten wir die Situationen in der Schule so wenig für die Entwicklung der Menschen, sondern dafür, irgendwelche sichtbaren Ergebnisse zu erzeugen. Wir reden so viel über Rahmenbedingungen, über Zeit vor allem, über Räume, über Themenkataloge und Wortlisten, über Zahlen aller Art und so, so viel über Regeln. Für die Menschen, die heranwachsenden wie auch die erwachsenen, scheinen wir uns nicht zu interessieren. Manchmal habe ich den Eindruck, als wären wir von unserer Aufgabe so entfremdet, dass wir den Rahmen, das ganze Drumherum, für das Eigentliche halten und die Menschen für eine zusätzliche Belastung.
Ablenkungsfreies Interesse an den Lernenden
Das deutsche Schulsystem erzeugt oder verstärkt soziale Ungerechtigkeit. Das ist für die Zukunft unserer Gesellschaft brandgefährlich. Da du zu den engagierten unter den (zukünftigen) Schulleitern gehörst, weißt du das und bist besorgt. Du kennst die Ergebnisse vielerlei Studien, vom Sozio-ökonomischen-Panel über Untersuchungen des UKE-Hamburg, der Uni Wien, der Bertelsmann-Stiftung während der coronabedingten Schulschließungen, bis zu den aktuellen Untersuchungen bspw. über den Königssteiner Schlüssel, nach dem Bundesmittel an die Länder verteilt werden. Die Liste setzt sich beinahe monatlich fort – und immer das gleiche Ergebnis. Wer hat, dem wird gegeben, wer benachteiligt ist, dessen Benachteiligung verschärft sich, die Hürden werden größer, je weiter jemand versucht, im Bildungssystem voranzukommen (Vgl. den sogenannten „Bildungstrichter“, zu finden beim Hochschulbildungsreport 2020).
Das weißt du alles.
Ich möchte deine Aufmerksamkeit hier auf etwas lenken, was mich bewegt, begeistert und gleichzeitig ernüchtert hat, als ich während der Zeit der Corona-Krise davon las. Als man die Schülerinnen und Schüler danach befragte, wie sie zuhause (im euphemistisch so benannten „Homeschooling“) gelernt haben, stellten sie als hinderlich vor allem folgendes heraus:
- die Menge der Aufgaben
- fehlende Motivation und
- Prokrastination durch fehlenden Druck
- Ablenkung
- fehlende direkte Hilfe
- fehlende Struktur
Als positive Merkmale des Zuhause-Lernens stellten die Jugendliche folgende heraus:
- Zuwachs an Autonomie bei Aufgabenauswahl und Zeitaufwand
- Eigenständigkeit dabei, den eigenen Lernrhythmus festzulegen
- besserer Schlafrhythmus
- persönliche Bedarfe als Schwerpunkte des Lernens setzen zu können
- Modernere Lernmethoden durch Digitalisierung
Stell dir vor, du würdest aus den beiden Listen oben einen Grundlagenkatalog für deine Schule – oder auch nur für deinen Unterricht – zusammenstellen, was müsstest du anders machen?
Wie so oft, wenn man versucht ein Fazit aus den Untersuchungen zum schulischen Lernen zu ziehen, fällt auch dieses scheinbar trivial aus: Je selbstständiger die Lernenden waren (und das auch so empfanden) und je weniger sie sich belastet fühlten, desto mehr haben sie gelernt.
Gleichzeitig ist keines der oben aufgelisteten Merkmale als absoluter Faktor zu betrachten, sondern ist im Grad seiner (positiven und negativen) Auswirkung stark abhängig von persönlichen Voraussetzungen. Nehmen wir mal an, es gäbe nur zwei Lernertypen: eigenständige Lerner und Prokrastinierer. Nehmen wir an, das wäre echte Veranlagung und niemand hat Einfluss darauf, zu welchem Typus er gehört. Was wäre, wenn die Schule die Eigenständigen in ihrer Veranlagung stärkt und die Vermeider eben in ihrer. Vieles spricht dafür.
Aber: Welche Leistung vollbringt unsere Schule dann eigentlich? Sie verstärkte dann doch nur, was die eine Hälfte der Bevölkerung sowieso schon kann. Soll das unsere Profession ausmachen: Verstärken, was schon gut läuft und aussortieren, was nicht?
Wie intensiv wird an deiner Schule am Selbstkonzept der Lernenden gearbeitet?
Wie dicht bist du selbst an deinen Schülerinnen dran? Sind diejenigen, die sich leicht ablenken lassen und sich keine großen Leistungen zutrauen, für dich nur faul und eben nicht reif für die höhere Schulbildung? Ist ein Schüler, der sich einfach nicht für deine Unterrichtsinhalte interessiert, ein Störenfried? Wenn sie sich schon nicht interessiert, soll sie dann wenigstens leise sein und nicht die anderen stören? Hast du solche Sätze im Unterricht schon von dir gegeben? Ich ja. Als ich noch so einiges nicht verstanden hatte.
Nicht die Lernenden haben eine Interessens-Bringschuld an deinen Themen, sondern du hast, definiert durch deine Aufgabe als Lehrer, die Pflicht, dich uneingeschränkt für jede einzelne Lernerin zu interessieren!
Und als Schulleiterin musst du einer Kultur zum Durchbruch verhelfen, in der ohne Wenn und Aber die Lernenden das Maß aller Dinge sind.
Der Weg führt über Dialoge. Ein Kulturwandel geht nur im Dialog und in Resonanz mit den Menschen. Keine Ansage, keine neuen Regeln, keine Kontrolle kann deine Schule transformieren.
Nur die Menschen können das.
Es wird nicht leicht
Frederic Laloux ist dir sicher schon begegnet. Sein Buch „Reinventing Organizations“ klingt ja schon nach einem Ratgeber für unser Anliegen. Falls du es nicht kennst, keine Sorge, der Titel ist zwar auf Englisch, das Buch gibt es aber auch auf Deutsch, vor allem in einer gekürzten und anschaulich illustrierten Fassung kann ich es dir als mutmachende und lehrreiche Lektüre nur empfehlen.
Laloux beschreibt eine EVOLUTIONÄRE und SELBSTGEFÜHRTE Organisation als Zielvision.
Lass dir diese beiden Worte auf der Zunge zergehen:
Evolution und Selbstführung.
Sind es nicht zutiefst menschliche Begriffe? Ist es nicht das, was die conditio humana ausmacht? Evolutionäre Entwicklung, als ständige Verbesserung und Überarbeitung des Vorhandenen mit dem Ziel der bestmöglichen Anpassung an die Umgebung und ihre Lebensbedingungen. Und: Selbstführung. Ist es nicht das, was wir in der Schule als Eigenständigkeit beschreiben? Ist die Fähigkeit, sich selbst führen zu können, nicht das, was wir uns als Reife, als Erwachsensein vorstellen? Ja, Begriffe sind immer unscharf, sie „schillern“ und man kann sie in konkreten Kontexten immer als unpassend und ungenau abtun. Ja, du bist Biologie-Lehrerin und sagst: Evolution ist hier als Begriff völlig unpassend, weil … Begriffe als unpassend abzulehnen, ist eine Standardmethode der Reaktanz.
Sind unsere Schüler: Klienten, Kunden, Kinder, Auftraggeber …? Wie wir sie nennen ist eigentlich egal, so lange wir eine gemeinsame Vorstellung davon haben, wie sie lernen und was dabei unser Job ist.
So viel Zeit wird damit verschwendet, sich über Begriffe zu streiten, deshalb darf man sie nie allein lassen, sondern muss sie mit einem Bild hinterlegen und mit einer gemeinsam erzählten Geschichte. Findet beispielsweise die Suche nach einem Leitbild nur auf der Ebene der Formulierungen und der Begriffe statt, dann endet sie entweder in unversöhnlichem Streit oder sie hat nur Bedeutungsleere als Ergebnis. Der kleinste gemeinsame Nenner ist dann nicht, was jeder zu tun bereit ist, sondern nur das Wort, bei dem niemand mehr einen misstrauischen Hintergedanken hegt. So entstehen Leitbilder wie „Wir wollen alle Schülerinnen und Schüler ins Denken bringen.“ Oder: „An unserer Schule wird jedes Kind in seiner Individualität wahrgenommen.“ Im Idealfall hat man dann zum Leitbild erklärt, was man sowieso schon irgendwie macht.
Evolution bedeutet, in Resonanz mit der Umwelt zu stehen und sich so an sie anzupassen.
In Form resonanter Antworten auf veränderte Anforderungen der Umwelt verändert sich dann eine Organisation, indem sie aus einer Vielzahl situativer Erfahrungen heraus erfolgreiche Konzepte verstärkt und Ineffektives sein lässt.
Dabei setzt sie sich selbst keine Grenzen hinsichtlich der Radikalität der Veränderung. (In der Evolution der Arten war es bei einigen Arten notwendig, das Konzept der Kiemenatmung als ineffektiv abzutun. Damit der Mensch aufrecht gehen konnte, musste sein Nachwuchs früher und unfertiger auf die Welt kommen, weil er sonst durch das für den aufrechten Gang notwendig engere Becken nicht durchgekommen wäre. Es ist vielleicht als Bild nicht schlecht, sich klar zu machen, das das Beharren auf gewohnte Verfahren und der kulturelle Konservatismus zutiefst unnatürlich sind. Die natürliche Ordnung der Dinge orientiert sich viel mehr an Veränderung, als manche „Hüter“ dieser Ordnung sich eingestehen mögen.)
Evolution und Selbstführung als Zieldimensionen für „deine“ Organisation.
Wie stehst du zu diesem Satz?
Ist es das, was du letztendlich willst?
– mal unabhängig von der Letztgültigkeit dieser Begriffe im alltäglichen Umsetzungszirkus (siehe Exkurs nebenan) –
Für die Transformation deiner Schule brauchst du die Menschen. Nein, das reicht noch nicht: Die Transformation deiner Schule können nur die Menschen vollführen.
In einen Transformationsprozess kann man die Menschen nicht MITNEHMEN.
Einen Transformationsprozess kann man nicht ERKLÄREN oder IN AUFTRAG GEBEN.
In eine Transformation kann man nur gemeinsam einsteigen und dabei gemeinsam langsam voranschreiten, komplett „open minded“ und so evident wie nur irgend möglich.
Gibt es dafür ein Rezept? Kann man das „Rad“, um es nicht neu erfinden zu müssen, irgendwoher übernehmen?
Nein, das kann man nicht. „Sieh zu, wie du zurecht kommst“, zitiert Laloux einen erfolgreichen Unternehmens-Transformer. Das klingt hart, ist aber wortwörtlich zu verstehen: „Probier aus, was an Veränderung geht und schau dir dabei selbst ganz genau zu. Beobachte, wie du dabei zurecht kommst – du als Chef und du als Organisation – und zieh aus deinen Beobachtungen die richtigen Konsequenzen.“ Was richtig und was falsch ist, kann dir niemand vorher sagen. Du bist darauf angewiesen, Fehler zu machen, zu scheitern und missverstanden zu werden.
Und das alles bedeutet, dass du die Menschen brauchst. Nicht als Feedback-Geber, nicht als Zustimmer, als Claqueure oder Multiplikatoren deiner segensreichen Ideen, sondern als Sinnstifterinnen.
Material
Growth Mindset
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Theorie X
Pschologische Sicherheit
Resonante Beziehungen
Wenn zwei Menschen miteinander kommunizieren, entsteht immer eine Beziehung. Das erweckt bei manchen Menschen den Eindruck, dahinter stecke ein automatisch ablaufender Prozess, der keine Sorgfalt, Pflege, Beobachtung oder Vorbereitung benötige. „Ich kann gut mit Menschen!“, ist eine selbstreferenzielle Behauptung. Erst, wenn ich es dazu kommen lasse, dass andere mit mir in ein Resonanzverhältnis kommen, innerhalb dessen Haltungen reflektiert, Handlungen untersucht und Ziele gemeinsam ausgehandelt werden, erst dann entsteht eine Beziehung, die Wirksamkeit erzielen kann. Gut mit Menschen zu können, ist in diesem monoperspektivischen Sinne kein Kriterium. Die gutgelaunte Kumpelhaftigkeit eines Vorgesetzten mag in irrelevanten Situationen zu einer entspannten Atmosphäre beitragen, allein, aus ihr entsteht noch nichts irgendwie Brauchbares für die Zukunft. Auch die Lehrerin, die in ihrem Unterricht auf freundliche Art dafür sorgt, dass sich alle benehmen und tun, was sie sagt, gestaltet damit noch keine Beziehungen.
Die Beziehungen aber sind trotzdem da. Die entscheidende Frage ist, ob dies eine distanziert mechanische Beziehung ist oder eine resonante Beziehung. Jeder und jede, die auf Menschen und mit Menschen wirken will, muss resonante Beziehungen gestalten.
Aus der gemeinsamen schöpferischen Tätigkeiten, also aus der gemeinsamen Lösung von Problemen und der gemeinsamen Ausgestaltung einer, wie auch immer gearteten, Zukunft entsteht eine Resonanzkraft, die echte Teams zusammenbindet, psychologische Sicherheit erzeugt und im Übrigen Basis des sozialen Lernens ist.
Es ist dabei klar, dass eine solche gemeinsame schöpferische Tätigkeit nur über einen „Dialog mit positiver Zuschreibung“, wie Michael Schratz das nennt, entstehen kann. In einem Klima des Misstrauens, der Vorschriften, der Leistungsorientierung, der Konkurrenz entstehen keine Beziehungen und keine Resonanzen, sondern Entfremdungen.
Wer bestimmen will, wie andere sich verhalten, erzeugt im besten Fall Assimilation. Und wer der Beziehung aus dem Weg geht und beispielsweise mit den Menschen nur in Aufträgen, Arbeitsteilung, Delegationen interagiert, erzeugt Entfremdung und Substanzlosigkeit. Das bedeutet nicht, dass es nicht in bestimmten Situationen Regeln, Grenzen, Konsequenzen oder Delegation braucht, wenn es aber bei diesen resonanzlosen Mechanismen bleibt, fehlt die entscheidende Kraft, um Dinge zu verbessern.